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Mara Richter

Autonome Schule Zürich am Sihlquai

Nach Luft schnappen und Worte suchen

Zürich. Ein verhaltenes Gefühl von Gross­stadt. Pure Freiheit im Sommer. Nicht nur dann: ein eigener Rhythmus. Eine gewisse Ehrlichkeit liegt in den Strassen. Der Schluck eines Lebens­gefühls.

Ich laufe durch diese Stadt. Gesichter und Geschichten kommen mir entgegen. Alle scheinen gezeichnet, tragen so viel Unsichtbares mit sich. Ich glaube, dass Gesichter und Geschichten tief mit­ein­ander verwoben sind. So gern ich mir diese Geschichten ausdenke, so frage ich mich doch auch immer, wie ich auf diese Menschen wirke. Merken sie, dass ich in diesem Moment kein Ziel habe, sondern einfach draussen mit ihnen eine Strasse teilen möchte und im nächsten Moment vielleicht komplett die Richtung ändere? Merken sie, wie frei ich mich bewege?

Ich habe nämlich lange gebraucht, um zu merken, wie viele Menschen sich nicht frei bewegen können. Gerade jetzt leiden gewisse Menschen unter einem sogenannten Rayonverbot. Es untersagt ihnen, den Stadtraum Zürich zu betreten oder ein gewisses kleines Gebiet zu verlassen. Das ist ein Bruch­stück der Realität «Schweizer Willkom­menskultur». Sie besteht aus vielen leeren Phrasen und Worten, hinter welchen sich oftmals schreckliche Fakten verbergen. Während ich mich mit diesen Fakten beschäftige, mit Menschen darüber spreche und Lektüre dazu heraussuche, lerne ich nicht nur viel über das Leben unterdrückter Menschen hier, sondern auch über mein eigenes. Vor allem die so selbstverständlich wirkenden Gewohn­heiten in meinem Alltag. Ich hinter­fragte diese bisher nicht weiter. Fast täglich nehme ich den Tausch von einigen Geldstücken gegen ein Stück Papier namens «Ticket» vor. Eigentlich bin ich es gewohnt, mich ohne Papier zu bewegen. Zuhause habe ich nämlich zwei Pässe – diese Seiten, einmal in leuchtend rotem, dann in blutrotem Einband eingefasst. Und die Bedeutung dieser Papierstücke ist von unermess­lichem Wert, denn sie scheinen heut­zutage mehr zu zählen als jede erdenk­bare Tugend. Dabei sind sie bloss Unter­grund für weitere leere Phrasen und Worte, die einen ebenso grossen Wert tragen.

Auch ich finde Worte wichtig. Aber nicht diese offiziellen, immer gleichen, in Do­kumente gedruckten Worte. Sondern solche, die wir anderen Menschen an­eignen können, welchen sonst oft noch die (deutschen) Worte fehlen. Denn so können wir von ihren Geschichten er­fahren, ihnen zuhören. Und so nicht nur Gesichtern Geschichten zurückgeben, sondern Menschen Identitäten. Oder wir kommen direkt in Kontakt mit Ge­flüchte­ten und sehen unglaublich viele Dinge. Geflüchtete schnappen nach Luft und suchen nach Worten. Haben Schweizer Flaggen als Handy­hinter­grund und Augen, die vor über­schwäng­licher Dank­barkeit leuchten, wenn ihnen ein winziger Hinweis zu einem bestimmten Wort gegeben wird.

Mit diesen Eindrücken fing alles an: an einem für Zürich so typisch grauen, verregneten Mittwoch im Februar 2017. Ich moderiere in der ASZ, der Autono­men Schule Zürich. Neben gratis Deutschunterricht, an dem Geflüchtete «teilnehmen» können (die ASZ wehrt sich gegen autoritäre oder andere bestehende Herrschaftsstrukturen, deswegen werden diese Begriffe gewählt), kämpft sie aktiv für «globale Bewegungsfreiheit für alle, eine Welt ohne Grenzen». Ich moderiere also drei Stunden lang einen Deutschunterricht und einige Geflüchtete kennen – nun – einen winzigen Teil mehr von unserer umfangreichen deutschen Sprache. Ich merke, wie sie mir die fremden Laute von den Lippen lesen und sogleich aufsaugen. Sie sind alle unheimlich wissbegierig. Da der Raum aus allen Nähten zu platzen scheint und doppelt so viele teilnehmen wollen wie eigentlich vorgesehen, geben sie sich auch mit einem Platz zwischen Tür und Angel zufrieden, teilen sich diesen sogar mit mehreren anderen Menschen. Vorurteile bleiben vor dieser Tür stehen – hier treffen verschiedenste Menschen aufeinander. Man könnte meinen, es würde so nicht funktionieren. An einem Punkt würde diese Idee der ASZ scheitern. Aber die Dinge dort haben ihren ganz eigenen Ablauf. Versuche ich, ein Wort wie «Ellenbogen» zu erklären, ist das noch einigermassen einfach. Sobald es aber abstrakter wird und ich zu erklären versuche, dass «Schlange» sowohl ein Tier wie auch einige wartende Menschen hintereinander bezeichnet, wird es schwieriger. Aber irgendwie klappt es immer – und hat es erst einmal jemand kapiert, ruft er es in seiner Sprache aus, und wer diese und eine weitere Sprache spricht, gibt die Bedeutung weiter. Wir lernen alle miteinander. Und die ASZ hat vielleicht nicht globale Bewegungsfreiheit für alle geschaffen, aber sie schenkt uns einen Raum, in der wir eine Welt entstehen lassen. Eine Welt ohne Grenzen.

Genau so funktioniert die ASZ. Manche sind einmal in diese Welt ohne Grenzen eingetaucht und wollen zurückkehren. Und das ist unglaublich einfach, weil die ASZ uns diesen Raum zur Verfügung stellt und alles mögliche Lernmaterial, damit zusammen gesprochen und ausgetauscht werden kann. Zumindest wird das versucht. Die Geflüchteten bemühen sich mit Kopf, Herz und Seele, Händen und Füssen. Genau wie ich. Wir befinden uns an diesem Ort hier, wo wir alle gleich viel bedeuten. Wir sind alle gleich, wir sind alle Menschen. Wir haben alle unterschiedliche Sachen erlebt. Sie jedoch teilen eine Erfahrung, die schrecklich war und von nun an ihr ganzes Leben bestimmen wird. «Auf Asyl warten ist wie schwanger sein – man wartet und wartet, und dann ist dieser Augenblick da, in welchem sich alles ändert», sagt ein Mädchen. Mag sein, dass die ASZ für viele nur ein Warte­raum ist, nachdem sie sich doch wieder in dieses System einordnen müssen, in welches uns der Staat presst. Aber sie haben einen der schönsten und pursten Orte Zürichs kennengelernt. Danach bekommen sie endlich auch ein Stück Papier. Mit viel Glück steht das Wort «Aufenthaltsbewilligung» darauf, dahinter ein einzelner, lose wirkender Grossbuchstabe. N, B oder F. Oder etwas ganz anderes. Und dieses vermeintliche unscheinbare Wort soll sein, was eine vage Vorstellung der Zukunft skizziert.


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