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Zürcher Unispital

Zwei Stunden in der Notaufnahme

Dienstagabend im Unispital um 19.40 Uhr: Vor der Notaufnahme leuchtet eine Kunstinstallation so grell, dass ich im Windfang noch immer Nachbilder sehe. Es handelt sich dabei um rundgebogene Argonröhren, gefüllt mit dem billigsten Edelgas.

Ich laufe fast in eine Frau hinein, die ihre nackten Beine unter einem Bade­mantel hervor aus dem Rollstuhl streckt. Der erste Krankenwagen trifft ein, zwei voll bewaffnete Polizisten mit einem Gegenstand im Plastikbeutel (Beweismaterial?) und zwei Sanitäter begleiten eine junge Frau direkt in den angrenzenden Aufnahmetrakt. Sie sieht ein bisschen nach Drogen aus, aber in diesem Licht, das allen Schatten unter die Augen wirft, könnte man das auch von den Angestellten in der Drahtglas­zelle «Anmeldung/Administration» sagen. Eine von ihnen stützt gerade das Gesicht in die Hände, wischt sich dann stirnrunzelnd über die Augen und arbeitet weiter.

Eine Pflegerin – grauer Haaransatz, zufällige Kurzhaarfrisur über freund­lichen Augen – erklärt der Wartenden neben mir entschuldigend: «Es ist wie in einem Ameisenhaufen.» Die Ange­stellten scheinen genau zu wissen, was sie zu tun haben.

Die schwangere Frau, die eben noch da sass, ist während meiner Notizen ver­schwunden, dafür hebt die Japanerin, welche bis jetzt durchgehend mit einem geräuschvollen iPad-Spiel beschäftigt war, zum ersten Mal ihren Kopf und lächelt mich an. Sie unterhält sich auf Japanisch mit ihrem Begleiter, es geht um ihren zugepflasterten Daumen, wie die Gesten der Frau verraten.

Herr Moser, Ende 70, wird abgeholt und besteht darauf, all seine Sachen selbst zu tragen.

Die zweite Ambulanz innerhalb von zehn Minuten trifft ein, eine Bahre wird hereingerollt. Ich habe mir die Ankunft der Ambulanzen dramatischer vorge­stellt. Wahrscheinlich würde ich nicht einmal merken, wenn einer der Bahren-Patienten schon tot wäre.

Die Polizisten gehen. Ich hätte gern gewusst, was sie in ihrem Plastikbeutel hatten und wieso sie mit der Frau hier waren.

20.18 Uhr: An der blinkenden Reflexion in meiner Armlehne aus Metall erkenne ich den nächsten Rettungswagen. Er entlässt nur eine hereineilende Sanitä­terin. Hinter ihr betritt ein Vater mit seinem kleinen Sohn die Notaufnahme. Die Augenentzündung des Jungen lässt sich unschwer am asymmetrischen Schlafzimmerblick erkennen. Der Fünf­jährige sitzt ganz still da und sagt seinem Vater, was dieser ins Formular schreiben soll.

«Gehts klar?», sagt der Vater des gähnenden Kleinen zu diesem und drückt ihm eine Eiswaffel ohne Eis in die Hand.

Man hört mindestens vier verschiedene Sprachen, das Krachen der Waffel, Babygebrabbel und einen Tacker.

Die Frau im blauen Bademantel wird wieder in mein Blickfeld gerollt, der kleine Junge isst seine zweite Waffel. Ein grauhaariger Patient im Metal-Sweatshirt und mit Jeans unterm Spitalhemd erkennt in der Bade­mantel­frau gerade eine alte Freundin, wie ich aus der überschwänglichen Begrüssung heraushöre. Die drei geben ein bizarres Bild ab, der Alt-Metal-Fan am Tropf mit seiner blumig-bunt gekleideten Part­nerin und der Freundin, die den Ständer an ihrem Rollstuhl statt mit Tropf­beuteln mit C&A-Tüten behängt hat.

Ein junger Mann wirft neben mir einen angegessenen Kebab in den Müll und bläst mir seine Alkoholfahne ins Gesicht, bevor er sich wieder neben seine kleine Tochter setzt. Als Nächstes schüttet eine blumig parfümierte Frau in meiner unmittelbaren Nähe schwer atmend zwei Becher Wasser herunter, als wäre es etwas Stärkeres; ich habe die Pole-Position zwischen Wasserspender, Selecta-Automat und Mülleimer. Der Kebab-Mann dankt es mir mit mehrmaliger Rückkehr.

Eine Familie kommt an. Der junge Mann, dessen Mutter neben mir mit dem Wasserspender kämpft, ist an seine Schwester oder Freundin gelehnt und sieht aus, als würde ihm etwas wirklich weh tun.

Ein junger Zivi mit Dreadlocks spaziert freundlich plaudernd zu seinem Patienten. Bis auf die Haare sieht er aus wie einem Plakat entsprungen, das hinter mir an der Wand hängt und für den Zivildienst im Spital wirbt.

Oft frage ich mich, wer Patient ist, wer Begleiter. Hätten die Kranken­haus­angestellten keine Uniformen an – ich würde mich dasselbe bei ihnen fragen, denn nicht selten sehen sie ange­schlagener aus als ihre Patienten.

Gegenüber liest eine Frau mittleren Alters mit beeindruckender Ernst­haftigkeit und fast manisch aus einer Illustrierten vor, ihre Freundin mit Pflaster über Kinn und Oberlippe hört konzentriert zu.

Das Wuseln des Ameisenhaufens hier ist ein leises Wuseln, mal ruhiger, mal schneller, man merkt ihm die Alltäg­lichkeit an. Bis jetzt hat kein Patient geheult, keiner geschrien und die Spitalangestellten regen sich nicht auf. Niemand wird wütend, nicht jetzt – vielleicht im Sommer, nach der Street Parade. Die Sanitäten kommen ohne Sirene an. Ich wäre gern diese sou­veräne Rettungssanitäterin, die trotz zügigen Ganges noch ein Lächeln für das brabbelnde Kind des Döneressers übrig hat. Sie packt draussen die Sachen auf der Rampe des Krankenwagens zusammen, schliesst die Türen und ist bereit für den nächsten Einsatz. Falls sie Nachtschicht hat, geht ihr Dienst noch ein paar Stunden, sie wird zu tun haben.

Im Innern des wohlorganisierten Ameisenhaufens wird freilich viel gearbeitet und man hat wohl wirklich viel zu tun. Bis jetzt ist noch kein Patient, den ich habe hineingehen sehen, wieder aus dem Aufnahmetrakt herausgekommen.

Der Mann mit der Alkoholfahne, der hier vorhin seinen Dönerrest weg­geschmissen hat, kommt zum dritten Mal her, diesmal lässt er sich Wasser raus. Gute Idee, bestimmt. Das Kind will auch, bekommt aber nur einen leeren Becher, dann einen Schoppen mit rosa Hasenohren.

Jetzt ist es ruhig, die Scheiben am Empfang sind zu.

Ein bis auf die weissen Hosen hip gekleideter junger Typ tritt seinen Dienst an. Ihm folgen zwei weiss Uniformierte und eine OP-Assistentin, die ich an ihrer blaugrünen Tracht erkenne.

Menschen in nicht ganz alltäglichen Situationen werden schnell zu Karika­turen ihrer selbst. Das äussert sich nicht in emotionalen Ausbrüchen, sondern in kleinen Ticks, Selbstge­sprächen, der Tendenz, sich die fremde Umgebung zum Wohnzimmer zu machen. Man riecht dauernd irgendjemandes Körpergeruch und versteht manche Familienverhältnisse nach einer gemeinsamen Stunde im Wartesaal besser als jene der eigenen Freunde.

Oft scheint es gar nicht mehr so sehr um die Erkrankungen zu gehen: Der kleine Waffel-Junge hat heute Vater-Sohn-Tag, die Augenentzündung wird zur Neben­sache, so auch die unnötige Warterei: Das Kind ist zu jung, um hier behandelt zu werden.

Die Bademanteldame gründet eine Leidensgenossenschaft mit ihrem Jugendfreund.

Die OP-Pfleger kommen draussen auf der Treppe zu ihrer Dosis Nikotin, drinnen im OP-Saal zum Adrenalinkick, welcher die nächste Raucherpause rechtfertigt.

Die Sanitäterin hat alles im Griff, lebt mit straffem Pferdeschwanz und Unisex-Hosen weibliche Emanzipation und klopft einem männlichen Kollegen aufmunternd auf den Rücken, als die beiden zusammen in der Führerkabine der Ambulanz auf den nächsten Notruf warten.


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