Höngg
- Felicia Gentile
- 24. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Wir betreten die Buchhandlung und riechen Bücher und Kaffee. Sonja breitet die Arme aus, dreht sich im Kreis und lacht. Ich schliesse die Tür und grinse sie an. Sonja schnappt sich ein Kinderbuch über die Polizei, ich stelle die Musikbox an und frage Sonja was sie hören will. «Küssen 01099» – Deutsche Musik. Wir beobachten, was vor dem Schaufenster passiert. Ein Pärchen schlendert vorbei. Die Frau bemerkt uns zuerst und grinst. Jugendliche überqueren die Strasse nach dem Fussgängerstreifen – Möchtegern Gangster. Später spielen wir «Würdest du eher…?» und beschliessen beide lieber nie mehr die Haare zu schneiden, anstatt die Fingernägel. Nach einer langen Stille drehe ich mich zu Sonja. Sie schläft immer rasch ein.
Plötzlich kratzt es an der Scheibe. Ich reisse meine Augen auf und drehe mich möglichst unauffällig. Der Rolladen liess sich nicht ganz nach unten ziehen. Jetzt sehe ich dort lange Fingernägel kratzen, so lang, dass man keine Hand dahinter sehen kann. Ich erstarre. Dann presst sich ein Gesicht an die Scheibe – es ist die Frau, die mit ihrem Freund in das Schaufenster geschaut hat! Eine Flüssigkeit tropft von ihrem Kinn. Ich weiche ein wenig zurück, ihr Grinsen wird hämisch. In der nächsten Sekunde weiss ich wieso. Ich stosse rückwärts gegen den Polizisten aus dem Kinderbuch, der gerade nach meiner Hand greift. Der Mann schubst mich nach vorne, der Frau entgegen. Die Tür steht sperrangelweit offen und er drückt mich unter dem Rollladen hindurch. Er ist so grob, dass ich mir den Kopf stosse.
Mein Kopf schmerzt, ich habe ihn mir am Bücherregal gestossen. Dabei ist das Polizeikinderbuch herausgefallen. Jetzt liegt es offen vor mir. Die linke Seite, wo gestern Abend noch ein Polizist war, ist jetzt leer.
Neben mir wird Sonja wach. Gemeinsam räumen wir unser Nachtlager auf. Gerade als wir losfahren sehe ich in einer Seitengasse eine Frau, die mir zuwinkt.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit der Literaturzeitschrift orte im Rahmen der 50 Jahre Jubiläumsfeier

Bild: Raphael Zubler