Konstantin und Pjeter
von Dorijan Minci
Ich, Konstantin Myschkin, bin 1998 auf die Welt gekommen und wohne seither an der Dorfgrenze von Horgen und Oberrieden am See. In den ersten vier Jahren meines Lebens verbrachte ich jedes Jahr zwei Sommermonate in Montenegro bei meinen Grosseltern. Ich lief immer wieder weg von meiner Grossmutter, wenn sie mich füttern wollte, fand immer wieder kreative Wege zu verschwinden. Es gab einen kleinen Schlitz zwischen dem Nachbarhaus und dem Haus meiner Grosseltern, durch den ich passte – und ja, die Nachbarn haben mich dann jeweils zurückgebracht. Wenn ich nicht versuchte zu flüchten, verbrachte mein Grossvater viel Zeit mit mir. Er nahm mich auf seinen Touren in die Innenstadt mit.
Mein Grossvater, Pjeter Myschkin, kam 1928 in Ulcinj, im Königreich Jugoslawien auf die Welt. Er war das zweite von vier Kindern, im Alter von fünf Jahren verlor er seinen Vater. Die Grosseltern meines Grossvaters waren bereits tot, als er geboren wurde. Er und sein älterer Bruder mussten also früh die Schule abbrechen, um ihre Mutter zu unterstützen. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, das Lesen und Schreiben zu lernen und die Grundlagen der Mathematik, um simple Rechnungen zu kalkulieren.
In der Schweiz befreundete ich mich als kleiner Bub mit der Nachbarschaft an. Ich wurde Teil einer kleinen Truppe. Wir waren eine grosse Mischung aus Schweizern, Bosnierinnen, Albanern, Italienerinnen und Montenegrinern. Die Montenegriner, das waren meine Schwester und ich. Wir spielten oft, zum Beispiel Fangen, Fussball, Räuber & Poli und so weiter.
Mein Grossvater ging in seiner Freizeit an den Strand und spielte mit seinen Kindheitsfreunden, er schwamm lange Strecken im Meer, spielte Streiche an Menschen oder ging fischen mit seinem Bruder. Ulcinj war ein Fischerdorf, das schon damals bekannt war für seine diverse Bevölkerung, die aus Albanern, Montenegrinerinnen, Serben, Afro-Albanerinnen und Romas bestand.
Als ich mit der ersten Klasse begann, kam es zur einer komischen Gruppenteilung. Die Kinder mit Migrationshintergrund mussten einen intensiven Deutschkurs besuchen. Ich verstand nicht, warum ich daran teilnehmen musste, da mein Deutsch akzentfrei war. Ich spreche besser Deutsch als meine eigene Muttersprache. Zwischen den Schulstunden vertrieben wir Jungs die Zeit mit Schlägereien. Jeder Junge, unabhängig vom Alter oder Nationalität, nahm daran teil. Vor allem im Winter ging es ab wie eine verdammte Granate. Seit Smartphones aufgekommen sind, ist es ruhiger geworden.
Als der Zweite Weltkrieg Jugoslawien erreichte und das Land unter die Kontrolle der Nazis kam, schloss sich mein Grossvater und einige seiner Freunde den Partisanen an, die unter Titos Kommando standen. In den ersten zwei Jahren blieb er als noch 13-Jähriger hinter der Front. Er versteckte Deserteure der Deutschen und Italienern bei sich und versorgte sie mit Essen und Trinken. Gegen 1943 kämpfte er zusammen mit seinen Freunden an der Front gegen die Nazis. Am 26. November 1944 befreiten er und die Partisanen seine Heimatstadt von den Faschisten.
Meine eigenen Teenager-Jahre waren eine Zeit mit ihren Pros und Kontras. Während die meisten Rap hörten, fand ich meine Leidenschaft für Sinatra, Cinema und Lederschuhe.
Mein Grossvater arbeitete als Maurer, Plantagenarbeiter, Eselzüchter und Melonenverkäufer, um seine ganze Familie zu ernähren. Er hatte gutes Geld mit Eselsmilch und Melonen verdient. Da er bereits so früh arbeiten musste, konnte er später sein eigenes Haus bauen, eine Plantage aus Melonen und Oliven betreuen und sich um seinen eigenen Hausesel kümmern.
Wenn ich heute an meinen Grossvater denke, möchte ich ihn gerne fragen: «Warum sagtest du immer 'Ja sam Jugoslaven' (Ich bin Jugoslawe), auch noch als es Jugoslawien schon lange gar nicht mehr gab?»
Zur Einstimmung auf die Tage südosteuropäischer Literatur im Literaturhaus schreiben die Stadtbeobachter-innen Arzije, Xhemile und Dorijan über ihren «Balkan in Zürich».
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