Meine lieben Zürcher*innen
Heute berichte ich euch aus New York City, aus den Vereinigten Staaten von Amerika, über die Stimmung nach den gestrigen Präsidentschaftswahlen.
Ich übernachte bei einem amerikanischen Kollegen und seiner Familie.
Die Wahlresultate hatte ich wegen meinem Jetlag verschlafen. Um fünf Uhr morgens stand ich auf und checkte auf meinem Handy die Nachrichten.
Headline des Tages: Donald Trumps eindeutiger Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Ich las soviel ich konnte, über die Konsequenzen für die Innen- sowie Aussenpolitik des Landes.
Beim Frühstück mit meinem Kollegen und seinen Eltern, teilten sie glasklar ihre Meinung. Sie waren überrascht, schockiert, deprimiert und frustriert von Trumps Sieg. Sie machten mir klar, wie katastrophal das Resultat für die Arbeiterklasse von Amerika ist, da Trump für die Reichen das Leben erleichtert, den Frauen das Recht auf Abtreibung erschwert und Immigranten das Leben zur Hölle machen wird. Sie erzählten mir auch von seiner Russophilie und Arschküsserei für die rechte Regierung in Israel.
Während wir in Staten Island auf den Bus nach Manhattan warteten, sahen wir viele Autos mit Trump-Flaggen herumfahren. Sie hupten und feierten ihren Sieg. Als Schweizer staunte ich, wie die Amerikaner einen politischen Sieg behandeln, als ob sie die Weltmeisterschaft gewonnen hätten. Ich war nur laut am Lachen, als hätte ich den lustigsten Witz in meinem Leben gehört.
Ich erkundigte die Stadt und wollte jeden Gesichtsausdruck sehen. Die Stimmung war ein wenig deprimiert. Es war ruhiger als am Tag zuvor. Es fühlte sich an, als wären viele besorgt um ihre Zukunft. Auf meinem Weg zum Washington Square Park, im Financial District, sah ich einen älteren Herrn mit Schutzweste, Pistole und Trump-Merchandise, der auf der Suche nach Konfrontation war. Es kam mir vor, als ob der Typ einen Todeswunsch hatte, mit seinen Gebärden eines Hauptcharakters.
Am Washington Square Park sprach ich Menschen an und sammelte ihre Meinungen über die Wahlresultate. Ich musste für viele am Anfang klarstellen, dass ihre Anonymität bewahrt wird, so dass sie ihre Meinung frei aussprechen können. Es gab einen einheitlichen Konsens, dass Trumps Sieg sie nicht überrascht hatte. Dass er allerdings so eindeutig sein würde, hatte niemand erwartet.
Zur gleichen Zeit wählte die Bevölkerung auch den Kongress und Senat, den die Republikaner mit einer grossen Mehrheit gewann. Viele, mit denen ich gesprochen hatte, fühlten sich deprimiert, hoffnungslos und beschämt von dem Resultat. Sie hatten erwartet, dass die Resultate für Kamala besser sein würden und dass die Wahl unentschiedener sein würde. Kaum jemand hat damit gerechnet, dass die Swing States derart klar für Trump gewählt hatten. Und dass so viele Frauen für Trump stimmten.
Viele drückten ihre Sorgen aus, dass Trump als Präsident und eine republikanische Mehrheit in allen drei Gewaltenteilungen eine grosse Macht besitzen wird. Viele fragen sich, wie sehr er das Land verändern wird. Wie sehr wird er eine starke Isolationspolitik betreiben, die Ukraine aufgeben, um Putin zu befriedigen, eine aggressivere Politik für Israels politische Agenda unterstützen, Immigranten eine schwere Zeit geben, das Klima vernachlässigen, Frauenrechte und Abtreibungen einschränken und natürlich das Gesundheitssystem, das jetzt schon unterste Sahne ist, abbauen. Viele seiner zukünftigen Entscheidungen könnten zur Annullierung Jahrzehnte brauchen.
«Was sein Sieg demonstriert, ist, dass der Rechtsrutsch, den man schon vor einem Jahrzehnt erahnen konnte, stärker als je zuvor ist», erklärt mir einer. Und ein anderer: «Unser liberales Establishment hat lange genug die Probleme des Proletariats ignoriert, die so frustriert sind, dass sie einen Faschisten wählen, der schauspielert für sie. Statt weiterhin einen Liberalen zu wählen. Egal wie es aussieht, wir müssen weiterkämpfen und nicht die Hoffnung aufgeben.»
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