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Gleis 1 zu 8

Ich warte mit dir am Gleis 1 bis die S14 einfährt. Wir steigen ein und entscheiden uns für oben, suchen uns einen Platz und setzen uns, wie immer. Wir sprechen über die Schule und was wir später noch machen werden, wie immer. Als der Zug am Bahnhof Altstetten einfährt umarmen und verabschieden wir uns, wie immer.


Ein paar Wochen später gehe ich mit einer anderen Kollegin auf der anderen Seite der Gleise zum Bahnhof hinunter. Wo bist du? Auf der Seite gegenüber, ganz alleine, stehst du, weil deine Kollegin schon in den Bus eingestiegen ist. Und ich, laufe hier zum Bahnhof mit meiner Kollegin und wir sehen zu dir rüber. Ich habe die Wahl, entweder ich komme zu dir rüber auch wenn ich weiss dass du sauer sein wirst, oder ich steige hier in den 80er und erspar mir das ganze Drama. Ich entscheide mich für ersteres, gefasst auf deine kalte Seite. Ich laufe also von Gleis 8 unter dem Bahnhof durch hinüber zu dir auf Gleis 1. Du steckst dir gerade deine Airpods ins Ohr und stellst deine Musik ein. Als ich zu dir trete schenkst du mir einen kalten, abfälligen Blick und ich seufze innerlich. Deine Airpods bleiben drinnen und unsere Konversation ist knapp. Ich stelle dir Fragen und du antwortest einsilbig mit ja/nein. Irgendwann gebe ich auf und versuche möglichst unauffällig meinen Kopfhörer in mein Ohr zu stecken. Ich verabschiede mich zurückhaltend als der Zug im Bahnhof Altstetten einfährt. Du bleibst stumm und abweisend.


Jetzt, ein paar Wochen später hat es sich so entwickelt, dass ich gar nicht weiss, auf welcher Seite du hinunterläufst um am Gleis 1 in die S14 einzusteigen. Ich vermute du wählst die rechte Seite denn die ist näher an deinem Gleis. Wann dein Zug fährt weiss ich auch nicht mehr, im Gegensatz zu früher als ich es wusste weil es war „wie immer“.  Ich für meinen Teil laufe mit meiner Kollegin auf der linken Seite fröhlich lachend zum Gleis 8 um dort mit ihr zu warten bis die S6 um 9ab einfährt und mein Bus kommt. Ich bin froh heute am Gleis 8 zu stehen, nicht darauf fokussiert ob wir oben einen Platz finden. Ich habe dazugelernt und bin dankbar für die Erfahrung „wie immer“ mit dir. Doch jetzt geh ich meinen Weg auf der linken Seite der Gleise und du deinen auf der rechten Seite.














Der Fünfer

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