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In the rich man’s world

4. Mai 2025 Kirche Saatlen im Quartier Schwamendingen

Foto: Lena Geser

Noch nie habe ich so eine schicke Spülung bedient wie die im Lavaterhaus.

 

Nach einer kurzen Fahrt unterirdisch, steigen wir auf zur Saatlenkirche im Kreis 12. Ein architektonisches Kunstwerk. Grossflächig. Gut in Stand gehalten. Steht die meiste Zeit leer.

Ein frischer Blumenstrauss imponiert vor dem Altar.

Sämtliche Kirchengänger:innen sitzen herausgeputzt in feinster Sonntagskleidung bereit.

 

Ora et labora.

 

„Abba, Vater. So bezeugt der Geist selber unserem Geist dass wir Kinder Gottes sind.“

 

Die habe ich früher immer meinem Grossvater auf der Blockflöte vorgespielt. ABBA, meine ich. Die Erwähnung scheint mir in diesem Kontext auch passend, denn für mich fühlt sich Kirche und Religion etwa an, als wäre ich in diesem Song von ABBA „living in the rich man’s world“. Gott als rich man.

 

Die Rolle des hilflosen, verlorenen, unterwürfigen Kindes scheint der heutige Leitfaden zu sein. Gott hält den Getauften ein herrliches Erbe bereit, wird versprochen. Doch hinter jeder Ecke lauert die Versuchung. (Money, money, money) Welcher zu widerstehen wir ohne Gottes Hilfe nicht fähig wären.

Gegen das Böse können wir uns nicht selber wehren, sondern müssen von Ihm erlöst werden. (Ain’t it funny)

Unter dem Konzept des Sugar Daddys hatte ich mir bisher etwas anderes vorgestellt.

 

Auch können wir lediglich bei Ihm so sein wie wir sind und dürfen dafür akzeptiert werden.

Sofern wir uns haben taufen lassen, versteht sich.

 

„…was eläige gilt vor diir: / Äifach choo, grad wie mer sind, / chlii und hilflos wien es chind…“

 

Heute von seinen Sünden reingewaschen und von Gottes offenen Armen akzeptiert, genau so wie er ist, wird das heutige Taufkind Remo. Nicht nur „so wie“, sondern tatsächlich ein kleines Kind (In a rich man’s world). Denn den Gläubigen hält Gott ein herrliches Erbe bereit. Ob es wohl auch ein frauliches gibt? Aber wer liest schon das Kleingedruckte?

 

Zum Abschluss mit gesenktem Kopf: „…dein Wille geschehe…und vergib uns unsere Schuld…und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen…“

 

Ich stelle es mir sehr schön vor, nicht ständig selbst nach einem Sinn suchen zu müssen, sondern diesen durch einen festen Glauben gegeben zu haben. Befinde ich mich in einer besonders schwierig auszuhaltenden Situation, denke ich mir oft, wie schön wäre es jetzt, religiös zu sein und mir selber sagen zu können, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht und mein Weg bereits vorbestimmt ist. Dieses Gefühl des Vertrauens stelle ich mir unglaublich befreiend vor.

Auf der anderen Seite verstehe ich nicht, wie jemensch dann trotzdem noch selbstverantwortlich handeln kann. Wenn ohnehin alles bereits entschieden ist und Gottes Wille geschieht, dann können wir als Einzelperson schliesslich nichts ausrichten und haben uns auch nicht um die Konsequenzen unserer Handlungen zu sorgen. Diese Ohnmacht und Hilflosigkeit höre ich auch aus allen vorgelesenen Ausschnitten und gesungenen Liedern. Nehmen wir das „Vater Unser“ als Beispiel: „Dein Wille geschehe“, „Unser tägliches Brot gib uns heute“, „Und vergib uns unsere Schuld“ und so weiter. Wo bleibt da die Selbstbestimmung? Wenn ich meinen Wecker am Vorabend nicht stelle und am Morgen zu spät zur Arbeit komme, weil ich nicht rechtzeitig aufgewacht bin, ist das dann auch Gottes Wille? Ich selber entschuldige mich und kontrolliere den Wecker für den nächsten Tag fünfmal. Wenn das zu banal ist, wo liegt dann die Linie zwischen Selbstverantwortung und Gottes Wille? Ist es schlichtweg so, dass wir, was wir uns selber nicht erklären können, auch nicht aushalten können? Mein tägliches Brötli kaufe ich normalerweise bei Sour Good oder John Baker und bezahle dafür gut 3 Franken. Das Gefühl von Schuld ist nicht angenehm, das würde ich gerne abgeben. Jedoch kann ich auch da mit meinen Handlungen selber steuern, ob ich dieses Gefühl überhaupt aushalten muss oder nicht. Und wenn nicht, dann kann nur ich meinen Fehler wiedergutmachen und mir schliesslich selber vergeben.

 

Oder nehmen wir das erste gemeinsam angestimmte Lied: „…was eläige gilt vor diir: / Äifach choo, grad wie mer sind, / chlii und hilflos wien es chind…“

 

Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der mich meine engsten Freund:innen nicht genau so annehmen wie ich bin. Ich möchte jeden Tag genau so sein, wie ich bin, und nicht nur vor Gott. Und ich möchte etwas an meiner Lebenssituation ändern, wenn ich mich klein und hilflos wie ein Kind fühle. In mir sträubt sich die innere Erwachsene bei jedem Zitat aufs Neue. Der Gottesdienst erscheint mir geradezu antitherapeutisch.

 

Und genau da liegt mein Problem: Wie kann eine selbstreflektierte und aufgeklärte Person im Jahre 2025 freiwillig solchen Reden lauschen und dann noch solche Zeilen mitsingen?

Selbst wenn ich die Zitate und Lieder nicht wortwörtlich nehme ist dieses Gefühl der Schuld und der Hilflosigkeit und Unterwerfung allgegenwärtig.

 

Am Ausgang scheppert die Kollekte.

(My life would never be the same)

 

Lena Geser (*1999), JULL-Stadtbeobachterin seit 2025



Foto: Lena Geser


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