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Wohin des Weges?

2. Februar 2025 Zwinglihaus in Wiedikon, bei der italienischsprachigen Waldenser-Gemeinde


Bilder Cornelia Camichel und Afrim Fetinci
Bilder Cornelia Camichel und Afrim Fetinci

Wohin des Weges? Frage an mich.


Ich gehe weg von hier, weg von allem. Ja, so ist es. Ich habe entschieden und niemand kann mich aufhalten. Ich muss weg, denn zu oft werden hier meine Eltern, meine fünf Schwestern und ich verwechselt. Die falschen Bilder, die man von mir und meiner Familie hat, töten mich. Während ich diesen Text schreibe, weine ich und packe gleichzeitig meinen Koffer. Wohin des Weges? Wie der Wind mich hebt. Ich gehe nach Wien.


Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt... Jesus ist tot. Wie sollte er noch fliehn? Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.* 


Eine Verwechslung brachte mich hierher, darum kann ich jetzt der Musik folgen. Die Pfarrerin hat mich angerufen, aufgeweckt. Nie, könnte ich diesen Ruf nicht erwidern.


Ich treffe in der Zwinglikirche ein, als die Kinder gerade rausgehen. Die Erwachsenen haben bereits alle ihren Platz gefunden. Ich stelle mich hinten an und sitze hinten rechts, wie der Pate im Mercedes. Das Niederknien hätte ich mir hier ersparen können. Nach Calvin und Zwingli sollte der Ritus von dem befreit werden, was nicht ausdrücklich in der Bibel niedergelegt war, so auch das Knien im Gottesdienst, insbesondere beim Abendmahl.


Jedes Mal, wenn die Holzbänke knarren und quietschen, empfinde ich grosse Demut. Stehen alle auf, so tue ich das auch. Wird gesungen, singe ich mit. Nein, ich ahme nicht nur nach, ich verstehe:

Tu sei la mia forza, altro io non ho, tu sei la mia pace, la mia libertà. Niente nella vita ci separerà: so che la tua mano forte non mi lascerà.**


Meine Sprachkenntnisse reichen gerade noch für diese Passage, aber nicht für einen ganzen italienischen Gottesdienst. Zum Glück können Pfarrer Herbert Andres und Pfarrerin Cornelia Camichel Bromeis nicht nur Parabeln oder, wie sie Paulus nennt: Rätsel, sondern auch die italienische Sprache übersetzen. Die Übersetzungen haben die richtige Länge und fesseln mich. Der Gottesdienst ist mehrsprachig, so können Fragen von mehr Leuten beantwortet werden. Darum Fragen an alle: Warum gehe ich in die Kirche? Kann ich mich an eine Gegebenheit erinnern, als ich stolz war auf meine Kirche?


Natürlich bin ich auf jede Kirche stolz, denn sie holen Gott zurück ins Denken. Die Erzählungen der Anwesenden sind nicht spektakulär doch erfüllt mit Dankbarkeit. Kirchenbesucherinnen der Zwinglikirche nahmen schon einige Personen in Not auf oder waren da für jene, die von Italien in die Schweiz zugezogen und Gleichgesinnte gesucht hatten.


Die deutschsprachigen Besucher*innen sind wortarm und legen keine Zeugnisse ab.


Ihr müsst nichts sagen, ich bin wertfrei, ich beobachte nur.


Nebenbei denke ich an verführerische Geister, denn ich höre die Sirenen. An der Aemtlerstrasse ist gerade ein Streifenwagen vorbeigefahren.


Alle Anwesenden kommen sich nun näher. Wir kommen zusammen und halten das Brot in den Händen, um alle gemeinsam zu essen.


Noi spezziamo il pane tutte insieme, e cadendo in ginocchio vogliamo lo sguardo a Te, Signor, pietà di noi***


Nach dem Mahl ist vor dem Kelch, mit Saft oder Wein. Jesus dankt und sagt, jedes Mal, wenn ihr von ihm trinkt, dann denkt an mein Opfer für euch. Ich sage, jedes Mal, wenn ihr von mir lest, dann denkt an mein Opfer für euch.


Wohin des Weges? Nach unten. Zwischen Kaffee und Kuchen höre ich an jenem Sonntag erneut die Sorge: Die Kirchen leeren sich. Ich denke, dass die Theologie, sich keine Sorgen um leere Kirchen machen soll. Wachstum um jeden Preis, darf nicht das Ziel sein. Vielmehr muss die Theologie den Anspruch wahren, moralisch avancierter als jede andere Wissensform zu sein. Eine Kirche, die sich für den Fortschritt der Menschlichkeit einsetzt, bleibt auch in kleinen Zahlen stark. Lieber leer und mit Moral anstatt voll und ohne Moral.



Afrim Fetinci, JULL-Stadtbeobachter, Februar 2025



* Aus «Korn, das in die Erde…» (Kirchenlied Nr. 390 im Katholischen Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz bzw. Nr. 456 im Evangelisch-reformiertes Gesangbuch, Ausgaben von 1998)


**Aus «Tu sei la mia Vita» (Symbolum ’77)


*** Aus einer Begleitschrift zum Gottesdienst der Waldenser Gemeinde.














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