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Von Sünden und Nusstorten

Aktualisiert: 27. Okt.

5. Oktober 2025 Kirche Fluntern

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Foto: Lara Alina Hofer


Normalerweise kämpfe ich sonntags um diese Uhrzeit mit obszönen Traumgestalten, jetzt mit anhaltender Müdigkeit. Du weisst, es ist zu früh morgens, wenn noch nicht mal das Coop To Go offen ist. Auch mein Lieblingsbeck und das Vi-Café sind dunkel. Noch nie habe ich den Paradeplatz so leer gesehen. In einer Ecke liegt Kotze. Ich könnte jetzt auf dem Heimweg vom Ausgang sein. Stattdessen gehe ich in die Kirche. Fühlt sich so das Älterwerden an?

 

Im Lavaterhaus gibt es Kafi und Gipfeli. Im Halbschlaf lausche ich Gesprächen zwischen der Pfarrerin, ihrem Mann und zwei Damen, die den heutigen Gottesdienst besuchen wollen. Es geht ums Altwerden und Ausmisten. Was soll man behalten, was fortschmeissen? „Ich bin ein Sammler, kein Jäger“, sagt einer. „Das Ausmisten gibt dir eine neue Sicht auf die Verwandtschaft“, ein anderer. Ich denke an die Fotos in der Schuhschachtel im Keller meiner Grosseltern. An die Liebesbriefe auf dem Estrich meiner Mutter. Alle Geheimnisse schlummern im Estrich oder im Keller. Im Himmel oder in der Hölle.

 

Dann brechen wir auf zur Kirche Fluntern. Alle pilgern zu Fuss, nur Anika und ich steigen ins Tram. Auf dem Weg erfahre ich Geheimnisse – über ihre Herkunft, ihre Familie, ihr Liebesleben. Die 82-jährige Witwe sagt, sie sei nie einsam, weil sie echte Freundinnen habe. Das sei das Wichtigste im Leben. Sie erzählt von einer Schlange, die auch ihre Freundin sei. „Sie häutet sich immer wieder, und bleibt doch immer gleich schön.“

 

Vor der Kirche Fluntern sagt mir der Mann der Pfarrerin, ich hätte „skin in the game“. Sei mit Leib und Körper dabei, meine Ziele zu verfolgen, nehme Risiken in Kauf und würde im Falle eines Scheiterns das an der eigenen Haut spüren und darunter. Ich muss an die Schlange denken, die sich häutet, um immer gleich zu bleiben. Mit Ausblick auf den Zürisee und bei aufgehender Morgensonne reden wir über Beruf und Berufung. Er sagt: „Wenn du irgendwo angestellt wärst, würdest du bloss nebenbei schreiben. Aber jetzt – jetzt bist du echte Schreiberin.“ With skin in the game...

 

In der Kirche scheint die Sonne durch verzierte Glasscheiben auf mein Gesicht. Ich bin die Einzige, die unter 50 ist. Bis auf einen Jungen mit lockigem schwarzem Haar und gesenktem Blick. Früher lernte man seinen Mann noch in der Kirche kennen, denke ich. Und heute?

 

Die Kirche Fluntern ist weniger prunkvoll und goldig als die, die ich gestern in Rom gesehen habe. Muss wohl eine reformierte sein. Die Decke ist mit Blumen aus Stein verziert. Wie im Zimmer in Rom, in dem John Keats gestorben ist. Kurz vor seinem Tod schrieb er vom Sterbebett aus: „I can already see the daisies growing above me.“ 

 

Vom Gottesdienst verstehe ich wenig. Er wird heute ausnahmsweise auf Romanisch gehalten. Unsere vierte Landessprache, die wiederum aus fünf Idiomen besteht, und die ich nie gelernt habe. Ich blättere durch die Übersetzung, mein Blick schweift durch die Kirche und zu dem Jungen. Ich Sünderin. Sündhafte Gedanken. Dunkel. Im Herzen diese Wut. Gott, gib mir die Kraft, gut zu sein. Ich habe etwas Dunkles in mir. Das nach Sünde verlangt. Ich muss erst lernen, ihm zu widerstehen.

 

„Eins ist Not“ prangt in goldener Schrift über dem Abendmahltisch. Darüber Jesus Christi am Kreuz. Ich muss an Patti Smith denken, die singt: „Jesus died for somebody's sins, but not mine.“ Dann gibt es Brot und Wein. Ich freue mich kauend darüber, dass der heutige Gottesdienst von zwei Frauen gehalten wird. Zwei Pfarrerinnen. Früher wäre das unmöglich gewesen. Bei den Katholiken noch heute. Ich kann es mir jetzt doch nicht vorstellen, katholisch zu heiraten. Das Gold bringt nichts, wenn die Moral nicht stimmt. Die heutige Kollekte geht an Frauen auf der Flucht, und ich freue mich über den Wandel, bin stolz auf den Feminismus und all seine Äste.

 

Ein letztes Lied wird gesungen. Zuerst singen die Frauen. Dann die Männer. Zum Schluss alle zusammen. Die Pfarrerinnen laden zu Nusstorte und Kaffee ein. Ich erhebe mich und blicke hinüber. Er ist der Erste, der die Kirche verlässt. Der Chor singt noch, schon ist er draussen, schüttelt Hände, verschwindet. Wohin er wohl so zügig eilt? Was ihn wohl antreibt, an diesem gähnenden Sonntagmorgen? Er hat ein Gesicht, das in Erinnerung bleibt. Das nach mehr verlangt. Gott ist gross. Vielleicht komme ich nächsten Sonntag nochmals, um ihn wiederzusehen.



 

Lara Alina Hofer, *2001, schreibt seit 2022 für die JULL-Stadtbeobachter:innen.




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