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Biel

Es formt sich mir ein Leben zurecht.

Innerhalb von 24 Stunden bekomme ich in Biel einen Beruf, eine Beziehung, einen Studienplatz und eine Altstadtwohnung mit Cheminee angeboten. 

Also: Was tun?

Zurückspulen.

Es ist ein warmer Frühlingsnachmittag in der schönsten Stadt der Welt. Zum Geburtstag habe ich die Erstausgabe “Unbekannte Gedichte” von Robert Walser erhalten, und nun will ich ausführlich darüber streiten.

Ich betrete das Antiquariat der Literatur. Geschichten ziehen Wände. Der Raum müffelt nach verwesender Literatur, die tapfer dem Zeitgeist trotzt, nicht wehmütig, sondern Stolz auf ihre Bereitschaft, zu warten auf was auch immer.

Ein Mann mit dunkelgrauem Haar, wohl Ladenbesitzer, steigt eine knarrende Holzleiter hinab, direkt in ein Gespräch mit mir.

“Robert Walser also.” Er schmunzelt, als würde er über den Dichter mehr wissen als ich. Was unmöglich ist! Er lacht. “Jeder hat das Gefühl, der Einzige zu sein, der ihn versteht. Das ist seine Stärke.” Auch meine.

Der Alte freut sich über meine Schlagfertigkeit. Spricht von Therese Huber und Karschin. Und stürzt sich in eine feministische Debatte mit mir. Er hastet durch die Regale, Argumente werden haptisch untermauert und widerlegt. Da packt er mich an den Schultern: “Wir brauchen mehr Frauen in der Literatur!” Ich ziehe bloss die Augenbrauen hoch. Als hätte ich keine Zweifel.

Draussen die Laternen. Wie viel Zeit ist vergangen?

Der Alte zückt seine Visitenkarte. “Ich bin alt geworden. Du kannst den Laden haben. Mitsamt den Büchern.”

Kurz schlägt mein Herz höher.

Dann stecke ich die Karte ein und gehe.

Ich bewahre sie gut auf.



Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit der Literaturzeitschrift orte im Rahmen der 50 Jahre Jubiläumsfeier






Bild: Raphael Zubler





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