Meine Tanne
Du stehst neben mir
in einem kleinen Dorf
zwischen Biel und Solothurn
nahe der Jura-Bergkette.
18 Jahre lang bin ich hier aufgewachsen,
bis es mich fort getrieben hat, weit weit weg.
Ich greife nach deiner Hand,
denn heute will ich dir einen ganz besonderen Ort zeigen.
„Komm mit“, flüstere ich, und gemeinsam laufen wir los, lassen die alten Häuser, Bauernhöfe und gepflasterten Strassen hinter uns,
laufen weiter und weiter, und
reden über längst vergangene Zeiten,
während sich der Himmel mal blau, mal grau färbt,
und die Wolken tief hängen,
wie die Gespräche, die wir führen.
Vor dem Waldrand bleibe ich stehen.
Die Bäume sehen dunkel und gefürchig aus,
die Äste wie nach uns greifende Arme.
„Hier willst du rein?“
„Nein“, sage ich, „nicht heute.“
Stattdessen betreten wir einen kaum erkennbaren Kiesweg, der am Wald und dessen Dunkelheit vorbei führt,
hin in ein Meer aus so endlosen grünen Wiesen und Getreidefeldern,
dass man meinen könnte, wir laufen ans Ende der Welt.
Und dort, eingebettet in eine bunt blühende Wiese, steht sie,
grob gross grün,
fernab von Wald und Dorf:
Meine Tanne.
Stundenlang sass ich schon als Kind
im Schutz ihrer Äste und Nadeln,
schlummerte, dachte nach, träumte
von jedem anderen Ort ausser dort,
blickte auf unser Haus - jetzt ganz winzig und fern.
Ich hatte immer das Gefühl,
dass sich hier oben ein Geheimnis verbergen müsse.
Vielleicht verrate ich es dir später.
Ich halte deine Hand noch immer,
und lasse sie nicht los,
als wir uns unter die Tanne setzen,
uns die Pullis von ihrem Stamm zerkratzen lassen.
Ich will, dass du verstehst,
wie viel mir dieser Ort bedeutet;
wie viel es bedeutet, dass du heute mit mir hier bist.
Also erzähle ich dir von damals, verrate, dass ich jede Person, die ich je geliebt habe, hierher gebracht habe:
Freundinnen, um an warmen Sommertagen in ihrem Schatten zu sitzen und selbstgebackene Schoko-Muffins zu essen.
Geliebte, die ich küsste und liebte auf dem warmen, roten Boden der endlosen Möglichkeiten.
Selbst mein zukünftiges Ich begegnete mir hier einst, an einem sonnigen doch traurigen Sonntagnachmittag, an jenem ich so verzweifelt und die Welt so aussichtslos schien, dass ich nicht wusste, wohin mit mir - und los lief, zur Tanne fernab von dir, und mir, und unserer kleinen Welt.
Meist jedoch sass ich ganz alleine da,
fühlte mich dabei nie einsam, doch stets gehalten von ihren schweren Ästen, die mir sanft übers Haar strichen -
solange, bis ich wieder zu träumen wagte,
von der Ferne,
der Grossstadt,
von Zürich, London, New York,
weit weg von dort.
Und jetzt?
Jetzt sitze ich hier in Zürich auf einer Bühne und träume von meiner Tanne auf dem Hügel.
Der Gedanke stimmt mich nicht traurig.
Denn egal wo ich auch hingehe,
wird meine Tanne auf dem Hügel auf mich warten und mich empfangen,
wenn ich eines Tages bereit sein sollte, Nachhause zu kehren.
Dann werde ich unten rechts meinen Namen finden -
einst bei einer Nacht-und-Nebelaktion mit rosaroter Farbe auf ihren braunen Stamm gesprüht -
werde mich daran erinnern,
wo ich herkomme und wo ich hingehöre.
Und selbst wenn ich einmal nicht mehr bin,
wird sie noch dort stehen,
schlummern, grüssen,
vielleicht dich,
vielleicht ein junges Mädchen mit grossen Träumen.
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