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Sie, ich, sie, wir

Meine Nachbarin war schon da, 70 Jahre lang bevor es mich überhaupt gab.

Jetzt stehe ich hier am Fenster und denke nach: Wie war das Leben früher in diesem Quartier, in das ich letzten Dezember gezogen bin?

Damals, noch bevor es billigst Matratzen für 30 Franken bei Ikea gab. Sie sagt, eine Matratze habe viel Geld gekostet. 30 Franken für eine Matratze, das ist so verdammt wenig, wie um Himmels Willen kann bei diesem Preis eine gute Qualität garantieren? Wir kaufen und kaufen und kaufen.

Früher, sagt sie, kannte man sich im Quartier, es seien Freundschaften zwischen Nachbarn entstanden. Ich kenne nur drei unserer Nachbarn. Sie kannten sich, erzählt sie mir, sie kannten den Wirt, sie blieben in ihrer vertrauten Umgebung.

Heute müssen wir alle weg. Weit weg. Alle haben das Gefühl, um sich selbst zu finden, müssen wir möglichst viel von der Welt sehen. Denken, wenn wir nicht ständig die Tapeten wechseln, falle uns die Decke auf den Kopf. Wir beginnen uns schnell zu langweilen und fürchten uns davor, eine viel schönere Tapete im Sonderverkauf zu verpassen. So wie wir so vieles verpassen, weil wir die Augen nicht richtig geöffnet haben. Und ich weiss nicht, ob es an uns liegt oder an der Zeit, aber das Leben verändert sich pausenlos und wir finden uns selbst ständig an neuen Orten dieser Welt wieder. Ob es nun heute oder früher besser war, kann ich nicht sagen, denn heute weiss man, dass das Unmögliche möglich ist und früher wusste mans nicht.

Sharlyn Keller sprach als Stadtbeobachterin des JULL für das Theaterprojekt «Alles in Allem» mit ihrer 89-jährigen Nachbarin über das Wohnen damals und heute.



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